16. 04. 2024

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16. 04. 2024

Gastbeitrag: Mehr öV über die Grenzen – mehr Züge für Grenzgänger

Ende März setzte sich LITRA-Präsident Martin Candinas am Rendez-vous romand de la mobilité in Lausanne für eine weitere Stärkung des öffentlichen Verkehrs in der Westschweiz ein. Für die LITRA zeigt der langjährige Le Temps Journalist Bernard Wuthrich in einem Gastbeitrag auf, welche Rolle die Romandie als Teil des Schweizer öV-Netzwerks spielt und was es heisst, Grenzkanton zu sein. Schliesslich kommen über die Hälfte der 390'000 Grenzgänger, die in der Schweiz arbeiten, aus Frankreich, meist mit dem Auto. Der Erfolg des Léman Express beweist, dass man sie zum Umsteigen auf den Zug bewegen kann. Erschwert wird das Vorhaben allerdings durch unterschiedliche politische Ansätze diesseits und jenseits der Grenze.

Der Erfolg des Léman Express inspiriert andere. © Stadler Rail

Die Romandie ist mit zwei grossen Mobilitätsproblemen konfrontiert. Einerseits gibt es für die 60 Kilometer lange Bahnstrecke zwischen den beiden grössten Städten des Genferseebeckens keine Ausweichstrecken. Wenn die Strecke Lausanne-Genf aufgrund einer Panne oder eines anderen Problems nicht befahrbar ist, sind dementsprechend keine Zugfahrten zwischen den beiden Städten möglich. Im Gegensatz zu den meisten anderen Strecken im Land gibt es nämlich keine andere Bahnverbindung zwischen den beiden.

Bundesrat und Parlament haben dies erkannt. Die eidgenössischen Räte haben grünes Licht für ein 1,3 Milliarden-Projekt gegeben – die Erstellung eines neuen, 9 Kilometer langen Eisenbahntunnels zwischen Morges und Perroy. Dies ist ein erster Schritt. Es benötigt jedoch noch weitere, wenn daraus eine leistungsfähige Strecke werden soll.

Geld auch für Autobahnen

Parallel dazu stimmte Bundesbern aber auch einem Kredit von 5 Milliarden Franken zu, um die Kapazität von sechs Autobahnabschnitten zu erweitern. 900 Millionen davon sind für die Erweiterung des 19 Kilometer langen Abschnitts zwischen dem Autobahnkreuz Le Vengeron (GE) und Coppet (VD) auf sechs Spuren bestimmt. Diese Entscheidung ist umstritten und es wird bezweifelt, dass diese Autobahnerweiterungen mit den Bemühungen vereinbar sind, Pendler zum Umsteigen auf die Bahn zu bewegen. Gegen diese umstrittene Entscheidung wurde deshalb ein Referendum ergriffen. Das Volk wird Ende des Jahres darüber entscheiden.

Die Westschweiz steht jedoch vor einem weiteren Problem: Wie sollen die Grenzgänger in die Mobilitätskonzepte integriert werden? Das Grundproblem besteht darin, dass die Mobilität in Frankreich immer noch sehr stark vom Auto geprägt ist. Dies erzeugt einen erheblichen Strassenverkehr in Richtung Schweizer Städte. Lösungen werden zudem durch unterschiedliche Ansätze diesseits und jenseits der Grenze und den wechselnden Prioritäten der französischen Verwaltungsregionen, die für den Verkehr zuständig sind, erschwert.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) wurden im Jahr 2023 390'000 Grenzgänger gezählt, fast dreimal so viele wie vor 25 Jahren (140'000 im Jahr 1996). 56 Prozent (220'000) davon kommen aus Frankreich, 24 Prozent (93'000) aus Italien, 17 Prozent (65'000) aus Deutschland und 2 Prozent (8'800) aus Österreich. Das Genfer Forschungsbüro 6-t hat mit den BFS-Daten deren wichtigsten Arbeitsorte ermittelt. Genf (104'000 / 27 Prozent) platziert sich an erster Stelle vor dem Tessin (80'000 / 20 Prozent), Waadt (44'000 / 11 Prozent), Basel-Stadt (35'000 / 9 Prozent), Basel-Landschaft (25'000 / 6 Prozent) und Neuenburg (16'000 / 4 Prozent). Während im Jahr 1996 die Stadt Basel noch die meisten Grenzgänger verzeichnete, ist es nun Genf.

Ein schwieriger Balanceakt für Personal und Rollmaterial

Überall wird versucht, das Problem der Pendlerbewegungen zu lösen. Der Erfolg des Léman Express rund um Genf motiviert diejenigen, die an das Potenzial des öffentlichen Verkehrs glauben. Gemäss Angaben des Unternehmens Lémanis sind die Fahrgastzahlen innerhalb von vier Jahren um 50 Prozent gestiegen und haben Ende 2023 rund 80'000 Reisende pro Tag erreicht. Davon sind 25 Prozent Grenzgänger.

Der Bau dieses grenzüberschreitenden Netzes mit einer Länge von 230 Kilometern und über 40 Bahnhöfen hat einige Zeit in Anspruch genommen. Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Region Auvergne-Rhône-Alpes (AURA) waren nicht leicht. Es musste eine Einigung über das Personal und das Rollmaterial gefunden werden, da das Prinzip einer einzigen Flotte verworfen wurde. Somit besteht der Betrieb aus 23 Flirt-Kompositionen von Stadler und 27 Regiolis von Alstom.

Dieser Erfolg bleibt auch in Basel nicht unbemerkt, wo der Ausbau der grenzüberschreitenden Bahnverbindungen im Gange ist. Anfang März einigten sich die Region Grand Est und die Basler Behörden, Partner des Trireno-Programms, auf einen Aktionsplan. Ab 2030 sollen zwei neue grenzüberschreitende Linien Mühlhausen mit Olten und Saint-Louis mit Laufen über den Basler SBB-Bahnhof verbinden. Bis 2035 werden diese beiden Linien mit den Namen S2 und S4 auch den EuroAirport Basel-Mulhouse bedienen, der noch nicht an das Schienennetz angeschlossen ist.

© Trinationale S-Bahn Basel

Auch hier ist die Frage des rollenden Materials und des Personals Gegenstand eingehender Diskussionen. Die Züge, die diese beiden Verbindungen bedienen werden, müssen nämlich in beiden Ländern zugelassen werden, was bei der derzeitigen RER nicht der Fall ist. Trireno kündigt an, dass die SBB «die Beschaffung der neuen Züge für die grenzüberschreitenden S-Bahn-Linien vorbereiten» wird und dass die entsprechenden Kosten von der Region Grand Est und der Schweiz getragen werden. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Vereinbarungen für die Infrastruktur und den Betrieb getroffen werden müssen, damit bis 2030 alles bereit ist. Es gibt jedoch noch viel zu tun.

10'000 Autos gegen 300 Passagiere

Die Schweiz hofft, andere Verkehrsachsen zu verbessern, in der Hoffnung, Grenzgänger auf die Schiene zu lenken. Das Wallis setzt alles daran, die Region AURA davon zu überzeugen, die Tonkin-Linie zwischen Evian und Saint-Gingolph wiederzubeleben. Neuenburg unternahm intensive Anstrengungen, um die Region Burgund-Franche-Comté (BFC) davon zu überzeugen, die TER-Linie Besançon-Morteau-La Chaux-de-Fonds zu verbessern.

Die überwiegende Mehrheit der Grenzgänger, die in den Neuenburger Bergen arbeiten, ist mit dem Auto unterwegs und bringt morgens und abends ein erhöhtes Verkehrsaufkommen in der Stadt Le Locle mit sich. Am Grenzübergang Col-des-Roches werden zwar täglich 10'000 Fahrzeuge abgefertigt, doch fahren nur 300 Grenzgänger mit dem Zug!

Während eine Umgehungsstrasse bei Le Locle gebaut wird, hat die Region BFC ein Investitionsprogramm zur Verbesserung der Eisenbahnstrecke aufgelegt. Da sie nicht elektrifiziert war, drohte ihr vor 20 Jahren das Aus. In zwei Tranchen wurden insgesamt 100 Millionen Euro investiert, um die Strecke leistungsfähiger zu machen – vom Ziel ist man jedoch noch weit entfernt. Auf französischer Seite wird darauf bestanden, dass sich diese Investitionen lohnen müssen – dies ist jedoch noch nicht der Fall.

Im Jura gibt es das schwierige Dossier der Achse Biel-Delle-Belfort. Nach intensiven Bemühungen wurde sie saniert und 2018 wieder in Betrieb genommen. Sie verbindet die Jura-Städte mit dem TGV-Bahnhof Meroux-Belfort, ohne in Delle umsteigen zu müssen. Die Ergebnisse, welche auf einen unzuverlässigen Fahrplan sowie unzureichende technische Zuverlässigkeit jenseits von Delle zurückzuführen sind, lagen jedoch unter den Erwartungen. Im Jahr 2023 kam es zu einem Eklat: Der einflussreiche Verkehrsminister Michel Neugnot, die Nummer zwei der Region BFC, kündigte vor der Regionalversammlung an, dass Frankreich das Experiment 2025 beenden werde. Züge aus der Schweiz (SBB) und aus Frankreich (TER) werden demnach in Delle halten, wo man dann für die Weiterfahrt umsteigen muss.

Im Jura herrschen hingegen Wut und das Gefühl des Verrats: Hier hat man in der Hoffnung, die Fahrgastzahlen zu verbessern, ein Projekt namens Convergence 2026 mit einem Halbstundentakt zwischen Delémont, dem TGV-Bahnhof und Belfort lanciert. Die Antwort von BFC dazu lautete: nein. Die Region lehnt den schweizerischen Taktfahrplan ab und setzt stattdessen auf eine getrennte Anbindung: schweizerisch bis Delle, französisch darüber hinaus.

Laut einem Bericht des regionalen Fernsehsenders Canal Alpha sollen die französischen Gewerkschaften Druck für diese Mischlösung ausgeübt haben. Diese Situation erinnert an die schwierigen Verhandlungen rund um die Entstehung und die Betriebsvereinbarung des Léman Express. Es ist zu befürchten, dass sich das Basler Projekt aus ähnlichen Gründen verzögern wird.


© Le Temps

Bernard Wuthrich, Journalist, ehemaliger Korrespondent von Le Temps in Bern.