19. 09. 2022

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19. 09. 2022

Gastartikel: Zukunft des automatisierten Strassenverkehrs in der Schweiz

Konventioneller Minibus, umgebaut in ein automatisiertes Fahrzeug, Swiss Transit Lab, Schaffhausen

Der automatisierte Verkehr wird die Mobilität verändern. Die Schweiz ist mit Pilotprojekten im Strassen-öV ein Pionierland. Welche Entwicklungen stehen bevor und warum braucht es die Perspektive und die Mitwirkung verschiedener Akteure? Swiss Association for Autonomous Mobility (SAAM) zeigt im vorliegenden Gastartikel auf, wie es um die Pilotprojekte für automatisiertes Fahren in der Schweiz steht und welche spannenden Mobilitätsideen geschärft werden.

Von Martin Neubauer und Oliver Nahon, Swiss Association for Autonomous Mobility (SAAM)

Die Entwicklung des automatisierten Fahrens schreitet weltweit voran. Auch in der Schweiz sind automatisierte Fahrzeuge für die Öffentlichkeit in den letzten Jahren zunehmend sichtbar geworden. Nicht zuletzt dank des Strassen-öV: Seit 2016 sind in der Schweiz nicht weniger als 20 automatisierte Shuttles unterwegs gewesen (mit Sicherheitsfahrer an Bord). Insbesondere die von PostAuto bis 2021 betriebenen selbstfahrenden Busse erhielten viel Aufmerksamkeit und dürften bei vielen Menschen in der Schweiz das Bild von automatisierten Fahrzeugen geprägt haben. Bei der Verwendung automatisierter Fahrzeuge im Strassen-öV nahm die Schweiz damit in Europa, oder sogar weltweit, eine Pionierrolle ein.

Was ist automatisiertes Fahren?

Automatisiertes Fahren steht für die Fähigkeit eines Fahrzeugs, ganz oder teilweise selbständig zu fahren und sich zu steuern. Es werden fünf Automatisierungsstufen unterschieden. Die Stufe 1 bezeichnet das assistierte Fahren, beispielsweise durch Spurhalteassistent, Tempomat oder automatischem Abstandshalter. Die nachfolgenden Stufen bezeichnen das teilautomatisierte (Stufe 2), bedingt automatisierte (Stufe 3) und hochautomatisierte Fahren (Stufe 4). Bei all diesen Stufen müssen Menschen gewisse Aufgaben übernehmen. Die Stufe 5 bezeichnet schliesslich das vollautomatisierte Fahren: Hier übernimmt die Technologie sämtliche Aufgaben. Ein Fahrer oder eine Fahrerin im Auto oder per Fernsteuerung ist nicht notwendig. Ein ausführlicherer Beschrieb der Automatisierungsstufen findet sich beim Bundesamt für Strassen (ASTRA).

Warum ist automatisiertes Fahren wichtig?

Automatisiertes Fahren ermöglicht eine nachhaltigere Mobilität und eröffnet Chancen für die Gesellschaft. Die demografische Entwicklung zeigt, dass die Bevölkerung immer älter wird. Mit den Möglichkeiten von automatisiertem Fahren erhalten ältere oder körperlich eingeschränkte Personen einen vereinfachten Zugang zur Mobilität und damit mehr Lebensqualität. Doch auch im Güterverkehr eröffnen sich neue, kostengünstigere Transportalternativen. Güter können effizienter und umweltfreundlicher transportiert werden.

Effektive und effiziente Mobilität ist immer auch ein Indikator von Wohlfahrt und Sicherheit in einem Land. Die Schweiz verfügt seit Jahrzehnten über ein gut funktionierendes Grundangebot an Mobilität. Dieses kann im Strassen-öV mit automatisierten Fahrten sinnhaft erweitert werden.

Auch hinsichtlich der Sicherheit im Strassenverkehr spricht vieles für automatisiertes Fahren. Je nach Automatisierungsstufe kann sich die Zahl der Unfälle weiter verringern. Heute sind 90 Prozent aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen. Die Herausforderung besteht darin, den Mischverkehr von konventionellen und automatisierten Fahrzeugen unfallfrei zu beherrschen. Es muss verhindert werden, dass die technischen Systeme versagen oder Verkehrssituationen falsch einschätzen. Die Entwicklung von zuverlässigen und robusten Technologien zur Steigerung der Sicherheit im Strassenverkehr ist daher von immenser Bedeutung. Nur so kann das Vertrauen der Menschen in das automatisierte Fahren gewonnen und nachhaltig gesichert werden.

Eine Auswahl laufender Projekte im Schweizer Strassen-öV

Das einleitend erwähnte SmartShuttle-Projekt hat PostAuto inzwischen regulär beendet. Das Interesse des Unternehmens am automatisierten Verkehr bleibt aber bestehen: PostAuto betreibt deshalb in Saas-Fee ein vielbeachtetes Pilotprojekt mit einem Gepäckroboter.

Auch andere Organisationen aus der öV-Branche verfolgen derzeit Projekte zum automatischen Fahren: 2018/2019 startete beispielsweise das Swiss Transit Lab (STL) in Schaffhausen einen Pilotbetrieb mit einem selbstfahrenden Bus, eingebunden ins ÖV-Netz der Verkehrsbetriebe Schaffhausen (vbsh). Seit August 2022 verfügt das STL auch über einen handelsüblichen Minibus, der zu einem Fahrzeug umgebaut worden ist, das über die Fähigkeit verfügt, «hochautomatisiert» zu fahren (Automatisierungsstufe 4). Das STL will damit noch in diesem Jahr im Rahmen eines Pilotprojekts einen automatisierten Busbetrieb im Stadtzentrum von Schaffhausen eröffnen.

Das grösste Pilotprojekt für automatisiertes Fahren im Strassen-öV in der Schweiz läuft derweil in Kanton Genf: Die transports publics genevois (tpg) betreiben eine Flotte mit automatischen Shuttles, die auf Abruf funktionieren. Nutzerinnen und Nutzer können die Shuttles direkt über ihr Smartphone bestellen.

Die hier erwähnten sowie weitere abgeschlossene, laufende und geplante Projekte sind auf der Projekt-Webseite von SAAM dokumentiert.

Stand der Dinge: Zuversicht ist angebracht, mehr Schwung wäre wünschenswert

Automatisiertes Fahren ist in der Schweiz angekommen – auch im öV. Diese neue Art der Mobilität wird sich laufend weiter entwickeln. Diverse Akteure in der Schweiz haben die Bedeutung des automatisierten Fahrens erkannt, was sich auch daran zeigt, dass inzwischen mehr als 30 Organisationen bei SAAM mitwirken, darunter Schweizer Transport-, Technologie- und öV-Unternehmen sowie Forschungsinstitute.

Wenn man die Mobilität im Sinne der Nutzenden weiter entwickeln will, ist es zentral, nicht nur die Technologie-Perspektive einzunehmen. In der Schweiz wird das automatisierte Fahren oft isoliert betrachtet. Anders ist dies in Deutschland, wo unter dem Stichwort der «Verkehrswende» eine breite und richtungsweisende Diskussion stattfindet, in deren Rahmen das automatisierte Fahren mitdiskutiert wird. Für die Bedeutung des automatisierten Fahrens ist es wichtig und sinnstiftend, das Thema vernetzt mit anderen grossen Herausforderungen zu betrachten. Noch zielführender ist es, wenn sich auch Unternehmen anderer Branchen, z.B. aus dem Detailhandel, der Energiewirtschaft, der Logistik oder der Stadtentwicklung, für das Thema begeistern lassen und sich aktiv an der Diskussion beteiligen.

Durchaus positiv ist, dass die Zusammenarbeit von SAAM mit der öffentlichen Hand konstruktiv verläuft. Die Behörden zeigen sich interessiert an den verschiedenen Pilotprojekten. Für die Zukunft von automatisiertem Fahren in der Schweiz ist deshalb Zuversicht angebracht.

Die Innovationsbereitschaft im Bereich des automatisierten Verkehrs in der Schweiz hat infolge der Coronavirus-Pandemie und der damit verbundenen wirtschaftlichen Ungewissheiten in den vergangenen zwei Jahren eher abgenommen. Das Potenzial für automatisiertes Fahren ist aber ungebrochen hoch. Im Parlament wird derzeit eine Revision des Strassenverkehrsgesetzes beraten, mit der die versuchsweise Anwendung automatisierter Fahrzeuge in der Schweiz rechtlich geregelt und damit bis zu einem gewissen Grad auch erleichtert werden soll (Geschäft des Bundesrates 21.080 im Parlament). Will die Schweiz mit den europäischen und globalen Entwicklungen mithalten, braucht es neben solchen Grundlagen auch den Mut der Akteure in der Verkehrsbranche, das Thema des automatisierten Verkehrs zu analysieren und sich darin zu positionieren.


Swiss Association for Autonomous Mobility (SAAM)

SAAM ist der Verband im Bereich der autonomen Fahrzeuge in der Schweiz. Bei SAAM haben sich über 30 Organisationen aus dem Mobilitätsbereich zusammengeschlossen, darunter Transport-, Technologie- und öV-Unternehmen sowie Forschungsinstitute. SAAM verfolgt das Ziel, die Mobilität von Personen und Gütern durch Automatisierung nachhaltiger zu gestalten und will die Mobilitätspolitik in diesem Sinne begleiten. SAAM fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen seinen Mitgliedern durch einen praxisorientierten Ansatz. Die von den Mitgliedern generierten Ideen können zu konkreten Projekten führen. So hofft SAAM, neue Mobilitätsdienstleistungen zu lancieren.


Anmerkungen zum Gastartikel

Der Inhalt des Gastartikels entspricht den Auffassungen der Autorenschaft. Entstanden ist der Artikel im Vorfeld der Automaticar. Die fünfte Ausgabe dieser Veranstaltung, die auch als Schweizer Agora für automatisierte Mobilität bezeichnet wird, findet im Rahmen der Mobilitäsarena am 20. und 21. September 2022 in Bern statt. Die Mobilitätsarena ist ein wichtiger Anlass in der Schweiz, um sich mit Akteuren aus Politik, Unternehmen und Wissenschaft über die Fortschritte der Mobilität von morgen auszutauschen. SAAM und die LITRA sind an der Veranstaltung vertreten.

Titelbild des Artikels: konventioneller Minibus, umgebaut in ein automatisiertes Fahrzeug (Swiss Transit Lab, Schaffhausen)