18. 11. 2025
Gotthard-Basistunnel lockt viele Reisende an, aber kaum Autofahrer
Vor bald zehn Jahren nahm der Basistunnel durch den Gotthard den Betrieb auf. Die verkürzten Reisezeiten auf der Nord-Süd-Achse haben viele neue Fahrgäste angelockt, aber nur wenig Menschen vom Auto auf die Schiene umsteigen lassen. So lautet das Fazit der Bachelorarbeit von Ann Hesse, die an der Hochschule Luzern entstand und mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet wurde.
Hat die Eröffnung des Gotthardbasistunnels die Verkehrsverlagerung auf der Nord-Süd-Achse beeinflusst? Mit dieser Frage beschäftigt sich Ann Hesse im Rahmen ihrer Bachelorarbeit.
Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor
Die beiden Basistunnel durch Lötschberg und Gotthard seien die «glaubwürdige Alternative zum europaweit geforderten Strassenkorridor für 40 Tonnen schwere Lastenzüge durch die Schweiz.» Das schrieb der Bundesrat im Jahr 1990 in seiner NEAT-Botschaft. Und: Der doppelte Alpen-Durchstich «verbessert bei einer Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene die schweizerische Umweltbilanz.»
Seit 2016 ist der Gotthard-Basistunnel in Betrieb. Seither wird mit Interesse verfolgt, wie sich das Bauwerk auf den alpenquerenden Personen- und den Gütertransport auswirkt. Diese Frage war nun Gegenstand einer Bachelorarbeit, die Ann Hesse an der Hochschule Luzern verfasst hat, betreut durch Professor Widar von Arx.
Die Studentin konzentrierte sich in ihrer Analyse auf den Personenverkehr. Sie hat untersucht, wie der Basistunnel die Passagierzahlen der Bahn beeinflusst hat – und wie stark die schnelle Nord-Süd-Verbindung Autofahrerinnen und Autofahrer auf die Schiene gelockt hat.
Personen, die den Gotthard mit der Bahn oder im Auto passieren, indexiert auf das Jahr 2013: Die Zahl der Bahnpassagiere hat von 2013 bis 2019 um rund 40 Prozent zugenommen, die Zahl der Personen im Auto knapp fünf Prozent. © Ann Hesse
Weitere Alpenübergänge einbezogen
Diese Fragestellung hatte Ende 2023 schon das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) in seinem «Monitoring Gotthard-Achse» untersucht. Die Bachelorarbeit verwendete nun eine abweichende Methode, die sogenannte Synthetic Control Method (SCM). Hierbei wurden nicht nur Verkehrsdaten vom Gotthard einbezogen, sondern auch Daten von zehn weiteren Alpenübergängen, darunter fünf aus der Schweiz, drei aus Österreich und zwei aus Frankreich.
«Dank dieser Herangehensweise lässt sich zuverlässiger einschätzen, welche Veränderungen der Passagierströme tatsächlich auf den 2016 eröffneten Basistunnel zurückzuführen sind», sagt Ann Hesse. Die 28-jährige Wissenschaftlerin verglich die vier Jahre vor der Eröffnung des Basistunnels mit den drei Jahren nach der Eröffnung, also die Zeiträume 2013 bis 2016, beziehungsweise 2017 bis 2019. Betrachtet wurden in diesen Jahren jeweils die verkehrsstarken Monate April bis Oktober.
Rund ein Viertel der Bahnpassagiere, die im Jahr 2019 durch den Gotthard-Basistunnel reisten, hätten diese Reise ohne Bau des Basistunnels nicht gemacht. Die zusätzlichen Bahnpassagiere rühren hauptsächlich daher, dass der Basistunnel die Nord-Süd-Verbindung durch den Gotthard attraktiver gemacht hat (induzierter Verkehr). Nur ein recht geringer Teil des zusätzlichen Verkehrs ist auf Personen zurückzuführen, die vom Auto auf die Schiene umgestiegen sind (Verlagerung Strasse). © Ann Hesse
Die Auswertung auf Grundlage der SCM-Methode zeigt: Die schnelle Bahnverbindung durch den Gotthard hat zusätzliche Bahnpassagiere in grosser Zahl angelockt. Im Jahr 2019 fuhren pro Tag durchschnittlich gut 11’000 Personen mit der Bahn durch den Gotthard.
Rund ein Viertel (25,3 Prozent) dieser Passagiere sind laut Ann Hesse auf den neuen Basistunnel zurückzuführen. Wäre der Tunnel nicht gebaut worden, wären im Jahr 2019 somit nur gut 8’000 Personen (74,7 Prozent des 2019 gemessenen Werts) mit der Bahn durch den Gotthard gefahren.
Der Gotthard-Basistunnel hat den Modal Split zugunsten der Bahn verändert von 25,8 auf 31,6 Prozent. Diese Zunahme verdankt sich aber nur zu einem geringen Teil der Verlagerung von Auto auf die Bahn, sondern ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die schnelle Bahnverbindung durch den Basistunnel neue Bahnkunden angelockt hat. © Ann Hesse
Beschränkter Verlagerungseffekt
Woher aber kommen die vielen zusätzlichen Bahnpassagiere? Sind das ehemalige Autofahrer, die – durch lange Staus genervt – auf die schnelle Bahnverbindung umgestiegen sind? Das ist teilweise der Fall, allerdings nur bei einer Minderheit. Nur einige Hundert Personen (2,7 Prozentpunkte) sind aufgrund des Basistunnels vom Auto auf die Schiene umgestiegen.
Der Löwenanteil der neuen Gotthard-Fahrgäste (22,6 Prozentpunkte) sind Personen, die ohne Basistunnel überhaupt nicht gereist wären – weder mit Bahn, noch mit Auto. Die meisten neuen Fahrgäste haben sich aufgrund der attraktiven Bahnverbindung überhaupt erst für die Bahnreise entschieden. Ann Hesse spricht in diesem Zusammenhang von Bahnverkehr, der durch den Tunnel induziert – also hervorgerufen – wurde.
Die Bachelorstudentin weist in ihrer Arbeit nach, dass die neue Bahninfrastruktur im Personenverkehr zu einer Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene führt. Dieser Verlagerungseffekt ist statistisch signifikant (also keine Zufallsgrösse), mengenmässig allerdings recht bescheiden: Es sind pro Tag durchschnittlich 164 Fahrzeuge mit 310 Personen; das entspricht einem Rückgang des Strassenverkehrs durch den Gotthard von rund einem Prozent.
Wie hat sich die Eröffnung des Gotthardbasistunnels auf den Strassenverkehr durch den Gotthard-Strassentunnel ausgewirkt? Führte die verbesserte Bahninfrastruktur zu einer Verkehrsverlagerung? Ann Hesse präsentiert im Rahmen der Preisverleihung des Prix LITRA 2025 ihre Ergebnisse. © LITRA
Nicht alle profitieren von kürzeren Reisezeiten
Infrastrukturausbau führt im Fall des Gotthard-Basistunnels also zu mehr Fahrgästen, aber nur sehr begrenzt zu einer Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene. «Es scheint, dass sich Gewohnheiten im Verkehrsverhalten nicht so leicht verändern lassen», sagt Ann Hesse.
Ein weiterer Grund: Viele Tür-zu-Tür-Verbindungen seien mit dem Auto immer noch schneller zu erreichen, trotz der Reisezeitgewinne durch den Gotthard- und seit Dezember 2020 auch durch den Ceneri-Basistunnel.
Die Erkenntnisse der Untersuchung stehen in Einklang mit den Erkenntnissen aus dem «Monitoring Gotthard-Achse» des Bundesamts für Raumentwicklung. Mit einer Einschränkung: Die Bachelorarbeit hat nur die ersten drei Jahre nach Eröffnung des Gotthard-Basistunnels untersucht.
Im Jahr 2020 folgte dann die Corona-Pandemie und brachte auch im Verkehrsbereich erhebliche Turbulenzen. Diese liessen sich im Rahmen dieser Bachelorarbeit nicht mehr adäquat beschreiben.
Ann Hesse
Schon der Vater hat bei der SBB gearbeitet, und jetzt auch die Tochter: Seit Mitte Jahr kümmert sich Ann Hesse in einer SBB-Fachabteilung um die Organisation des Zugverkehrs rund um Baustellen und Events aller Art. Im Frühsommer 2025 hatte die gebürtige Bernerin ihr vierjähriges Bachelorstudium in «Economics and Data Science in Mobility» an der Hochschule Luzern abgeschlossen.
Sie war eine der ersten, die den erst vor kurzem geschaffenen Studiengang durchlaufen hat. Vor dem Studium hatte sie bereits eine öV-Lehre absolviert und kurze Zeit als Zugbegleiterin gearbeitet. «Der Prix LITRA ist mein erster Preis», sagt Ann Hesse. «Für mich ist er eine Anerkennung der Mühe, die ich in die Bachelorarbeit gesteckt habe, aber auch ein Indiz dafür, dass die Ergebnisse für die Diskussion rund um die Verkehrsverlagerung von praktischer Bedeutung sind.»
Hesse, A. (2025), Bahninfrastrukturausbau und Strassenverkehr: Eine Synthetic Control Method-basierte Fallanalyse des Gotthardbasistunnels, Bachelor-Arbeit, Hochschule Luzern HSLU, Luzern.
Der Prix LITRA 2025: LITRA-Präsident Martin Candinas, Ann Hesse, Silvano Fuchs, Julien Nippel, Mélina Errichelli und Bundesrat Guy Parmelin. © LITRA
Prix LITRA 2025: Ob Personen- oder Güterverkehr – der öV-Nachwuchs bewegt die Schweizer Mobilität
Im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung der LITRA in Bern überreichte Bundesrat Guy Parmelin den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern des Prix LITRA den Pokal und würdigte ihr grosses Engagement für die Mobilität in der Schweiz.
Ausgezeichnet wurden Silvano Fuchs, Mélina Errichelli, Julien Nippel und Ann Hesse.