13. 11. 2025

Wie die Logistik wieder Teil der Städte wird

Warenströme sind der Lebensnerv urbaner Gesellschaften. Und doch wurden Güterbahnhöfe, Umlade-Terminals und andere Logistikeinrichtungen in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr aus den Stadtzentren verdrängt. Gibt es Möglichkeiten, diese ökologisch oft problematische Entwicklung umzukehren? Eine Masterarbeit aus der Westschweiz von Mélina Errichelli und Julien Nippel, die mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet wurde, entwirft ein Gegenmodell.

Wie bringt man die städtische Logistik wieder näher zu den Menschen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Mélina Errichelli und Julien Nippel in ihrer Masterarbeit. © LITRA

Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor

Seien es Kleider, Elektronikartikel oder Bücher: In unserer Gesellschaft zählen wir darauf, dass wir nicht nur aus unzähligen Konsumgütern auswählen können, sondern diese auch schnell geliefert bekommen.

So gehören die Lieferwagen der Paketdienste heute ebenso zum Strassenbild wie die E-Bikes des Pizzakuriers. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahrzehnten Warenumschlagplätze wie Güterbahnhöfe oder Umlade-Terminals aus den Städten verdrängt.

An ihre Stelle traten andere Nutzungen, die eine höhere Rendite versprechen und dem urbanen Lebensstil besser zu entsprechen scheinen.

Der Güterbahnhof Sébeillon in Lausanne wurde 2019 stillgelegt. Da sich das Gebäude, das als Umschlagplatz diente, für eine moderne Logistiknutzung nicht eignet, schlagen Mélina Errichelli und Julien Nippel in ihrer Masterarbeit vor, den vorgeschlagenen Citylogistik-Hub auf einem benachbarten Grundstück neu zu errichten. © Dominik Geh

Logistikzentren befinden sich heute nicht selten auf der grünen Wiese, vorzugsweise nahe der Autobahn, damit die voll beladenen Lastwagen die Güter schnell in alle Himmelsrichtungen verteilen können.

Eines dieser grossen Logistikzentren liegt beispielsweise bei Aclens nordwestlich von Lausanne. Es ist eine wichtige Drehscheibe für die Güterversorgung der Westschweiz.

Die Lage des ehemaligen Güterbahnhofs Sébeillon zwischen Lausanne Gare und Renens. © Mélina Errichelli / Julien Nippel

Ehemaligen Güterbahnhof reaktivieren

Es ginge auch anders, sind Mélina Errichelli und Julien Nippel überzeugt. Die beiden Studierenden haben am Beispiel der Stadt Lausanne aufgezeigt, wie Logistik wieder in die Städte zurückgeholt und ein neues Miteinander von Wohnen und Logistik geschaffen werden könnte.

Die gemeinsam verfasste Masterarbeit entstand im Studiengang Raumentwicklung, der von der Universität Genf in Kooperation mit der Westschweizer Fachhochschule angeboten wird. Die Arbeit wurde von Yves Delacrétaz, Professor für Mobilität und Transport an der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt (HEIG-VD), betreut.

Im Zentrum der Arbeit steht der ehemalige Güterbahnhof Sébeillon an der Bahnstrecke vom Bahnhof Lausanne zum westlichen Vorort Renens. Bis 2019 wurden hier Waren umgeschlagen. Seither ist das ehemalige Bahnhofsareal ein teilweise verwaistes Gewerbegebiet mit Lagerhäusern, Grosshandel und Büros.

Mélina Errichelli und Julien Nippel haben untersucht, wie sich an dieser Stelle ein städtisches Logistikzentrum aufbauen liesse. «Wir sehen dieses Zentrum als Teil einer lebendigen Stadt, das die Geschichte des Ortes berücksichtigt», erklärt Mélina Errichelli.

Die Vision der beiden Masterstudierenden: Der neue Citylogistik-Hub (orange) soll südlich des bestehenden Wohnquartiers «Halle 15» auf einem 19’000 Quadratmeter grossen Grundstück errichtet werden. Die Halle des ehemaligen Güterbahnhofs würde als Zentrum für Handwerk und Quartierleben revitalisiert. Angrenzend könnte eine neue Wohnüberbauung entstehen. © Mélina Errichelli / Julien Nippel

Vorrang für Bahn und kleine Elektrofahrzeuge

Kern des Projekts ist ein Citylogistik-Hub mittlerer Grösse. Pro Jahr könnten hier unter Berücksichtigung des urbanen Umfelds 100’000 Tonnen Güter umgeschlagen werden, vor allem Pakete und palettierbare Industrieprodukte.

Nach Vorstellung des Autorenteams würden die Waren hauptsächlich mit Bahn und Lastwagen angeliefert, umgeladen und anschliessend mit Bahn und Lastwagen, vor allem aber mit leichten Elektro-Nutzfahrzeugen und Elektro-Lastenrädern im westlichen Lausanne verteilt.

Da die Bahn ökologisch vorteilhaft ist, wird sie privilegiert, indem die Anlieferung ebenerdig erfolgt. Die Anlieferung per Lastwagen hingegen erfolgt im Tiefgeschoss. Lastwagentransporte werden damit bewusst benachteiligt, denn die Waren müssen mit einem Lastenaufzug ins Erdgeschoss gehievt werden, bevor sie umgeladen werden können.

In Lausanne sollen Lastenräder – hier ein Beispiel aus Brüssel – künftig eine wichtige Rolle in der Citylogistik übernehmen. © Mélina Errichelli / Julien Nippel

Für die städtischen Warentransporte werden elektrische Kleinfahrzeuge präferiert. 43 leichte Nutzfahrzeuge und 123 Lastenräder bewältigen nach den Berechnungen von Mélina Errichelli und Julien Nippel 40 Prozent der Weitertransporte, beziehungsweise durchschnittlich 157 Tonnen pro Tag.

Der Warenumschlag erfolgt hauptsächlich in den frühen Morgenstunden und am Abend, aber auch nachts. «Wegen des Nachtfahrverbots für Lastkraftwagen hat der Citylogistik-Hub in den Nachtstunden einen Verteil», sagt Julien Nippel und ergänzt: «Die Möglichkeit, tagsüber zusätzliche Güterzüge einzusetzen, würde eine Entlastung des morgendlichen Verkehrsaufkommens und eine Verkürzung der Lieferzeiten ermöglichen.»

Gemeinsam mit ihrem Studienkollegen Julien Nippel wurde Masterstudentin Mélina Errichelli mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet. Übergeben wurde der Preis durch Bundesrat Guy Parmelin. © LITRA

Urbanen Lebensraum schaffen

Das Logistikzentrum soll für Menschen aus der Nachbarschaft zu einem attraktiven Lebensraum werden. Deshalb werden in seinem Umfeld Geschäfte – wie beispielsweise eine Bäckerei oder ein Café – Dienstleistungsbetriebe – wie Paketannahmestelle – und Handwerksbetriebe – wie eine Tischlerei – angesiedelt. Die gleiche Zielsetzung haben raumplanerische Massnahmen wie eigene Wege für Velos und Fussgänger, Begegnungsräume und attraktive Grünanlagen.

Wie kann die Logistik wieder in die Stadt integriert werden? Julien Nippel präsentiert im Rahmen der Preisverleihung des Prix LITRA 2025 die Ergebnisse seiner und Mélina Errichellis Masterarbeit. © LITRA

Mélina Errichelli und Julien Nippel legen für den Citylogistik-Hub keine Wirtschaftlichkeitsrechnung vor. Sie sind sich aber bewusst, dass die hohen Grundstückspreise in guten Citylagen ein Knackpunkt für zentrumsnahe Logistikprojekte sind und ein Vorhaben nur Chancen hat, wenn es ökonomisch tragfähig ist.

Ob ihre Ideen für die Revitalisierung des ehemaligen Lausanner Güterbahnhofs aufgegriffen werden, ist zurzeit offen. Die Möglichkeit wäre durchaus gegeben: Gegenwärtig ist ein städtebaulicher Wettbewerb für die künftige Nutzung des Areals am Laufen.

Mélina Errichelli und Julien Nippel

Mélina Errichelli lebt in Meyrin und ist 26 Jahre alt, Julien Nippel stammt aus Biel und zählt 38 Jahre. Die Masterarbeit, die mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet wurde, haben die beiden gemeinsam verfasst.

Dabei hat Mélina Errichelli ihr Wissen im Bereich Städtebau eingebracht, während Julien Nippel sein Logistik-Knowhow beitrug. Die Masterarbeit entstand im Studiengang Raumentwicklung, der von der Universität Genf und der Westschweizer Fachhochschule (Haute Ecole Spécialisée de Suisse Occidentale/HES-SO) getragen wird und an den Standorten Genf, Lausanne und Yverdon verankert ist.

«Wir sind über den Prix LITRA sehr erfreut und auch etwas überrascht, weil wir uns in unserer Arbeit mit dem Güterverkehr befassen und nicht sicher waren, ob das ins Profil des Prix LITRA passt», sagt Julien Nippel. «Die Auszeichnung ist eine schöne Anerkennung, denn man spricht zwar viel über Bahnhöfe für Personen, wenig aber über Bahnhöfe für Güter, wie wir sie in unserer Arbeit betrachten», ergänzt Mélina Errichelli.

Errichelli, M. & Nippel, J. (2025), La question de la logistique urbaine et de sa réintégration au coeur de la ville, Master-Arbeit, Université de Genève UNIGE & HES-SO, Lausanne.


Der Prix LITRA 2025: LITRA-Präsident Martin Candinas, Ann Hesse, Silvano Fuchs, Julien Nippel, Mélina Errichelli und Bundesrat Guy Parmelin. © LITRA

Prix LITRA 2025: Ob Personen- oder Güterverkehr – der öV-Nachwuchs bewegt die Schweizer Mobilität

Im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung der LITRA in Bern überreichte Bundesrat Guy Parmelin den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern des Prix LITRA den Pokal und würdigte ihr grosses Engagement für die Mobilität in der Schweiz.

Ausgezeichnet wurden Silvano Fuchs, Mélina Errichelli, Julien Nippel und Ann Hesse.