15. 03. 2021

print Created with Sketch. PRINT

15. 03. 2021

LITRA-Replik zur "Verkehrswende durch Kostenwahrheit"

Freie Fahrt für Luxuslimousinen oder für eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik? - Replik der LITRA auf den NZZ-Artikel vom 9.3.21: Verkehrswende durch Kostenwahrheit

Nobelpreisträger Paul Krugman hat vor ein paar Jahren den Begriff «Zombies of Voodoo Economics» eingeführt. Der Gastbeitrag von Reiner Eichenberger und David Stadelmann zur "Verkehrswende durch Kostenwahrheit" ist als solcher «Zombie» einzureihen: Die Autoren vertreten Ideen, die schon lange und deutlich widerlegt wurden, aber trotzdem immer wieder neu aufleben. Nicht nur ist das methodologische Vorgehen der Autoren fragwürdig, sie leisten damit vor allem keinen hilfreichen Beitrag zur Lösung der Herausforderungen in der Verkehrspolitik.

Die Frage der Kostenwahrheit im Verkehr ist ein vieldiskutiertes und wiederkehrendes Thema, in der Politik wie in der Wissenschaft. Frei nach Churchill's berühmten Satz, keiner Statistik zu glauben, die er nicht selber gefälscht hat, konstruieren die Autoren ein neues Modell zur Berechnung der Kostenwahrheit im öffentlichen und privaten Verkehr. In diesem werden zum Beispiel erstmals die "Budgetschäden" des öffentlichen Verkehrs (öV) als "externe Kosten" mitgerechnet, womit sich die Wahrnehmung des "guten und bösen" Verkehrs zwischen öV und motorisiertem Individualverkehr (MIV) verschiebt.

Zwar gibt es für die volle Kostenanlastung an Verursacher durchaus gute Gründe. Doch die Infrastruktur- und Betriebskosten des öV zu den "externen Kosten" zu zählen, mutet dennoch sonderbar an. Die öffentliche Hand bestellt öV-Leistungen, um eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Mobilitätsdienstleistungen sicherzustellen. Das Mobilitätsbedürfnis der Menschen kann damit nachhaltig befriedigt werden, das heisst mit möglichst geringen finanziellen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. In der Logik von Eichenberger und Stadelmann könnte man grundsätzlich alle Kosten des Staats, beispielsweise auch die Sicherheits- und Ordnungskosten, als "externe Kosten" bezeichnen. Mit umfangreichen Steuersenkungen könnte man dann also gemäss den Wünschen der Einwohner nachhaltig mit Milizen für Recht und Ordnung sorgen. Als akademische Sandkastenspiele mögen solche Ideen taugen, politisch weiter bringen sie uns nicht.

Zurück zur Kostenwahrheit im Verkehr. Die Autoren halten selber fest, dass alle Kostenschätzungen mit Unsicherheiten behaftet sind. Vor allem aber ist ein zentraler Aspekt für die politischen Diskussionen zur Verkehrspolitik nicht in ihrem Modell berücksichtigt: der Raum. Der öffentliche Verkehr braucht ein Vielfaches weniger an Platz, um die gleiche Anzahl Personen zu befördern. Hier ist die Wissenschaft schon lange gefordert, endlich entsprechende Modelle zur Berechnung dieser Kosten zu erstellen, respektive den "Nutzen des Raumgewinns" zu beziffern. Dies würde im Modell der Autoren fast sicher zu einer Rück-Verschiebung des "guten Verkehrs" zum öV führen. Doch letztlich zeigt genau dieses Beispiel, dass Kostenmodelle für eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik schlicht nicht die bestimmende Grösse sind.

Die Verkehrsrevolution hat effektiv schon vor der Corona-Pandemie begonnen und wird durch die Klimapolitik weiter beschleunigt. Konkret müssen zur Erreichung der Schweizer Klimaziele insbesondere im Verkehrsbereich rasch Taten zur Verminderung des Treibhausgas-Ausstosses folgen. Gemäss Vorschlag von Eichenberger und Stadelmann kann dies am besten durch Steuersenkungen mit sozialen Ausgleichsmassnahmen erfolgen. Was die Autoren nicht thematisieren: der Vorschlag würde zu einer massiven Verteuerung der individuellen Mobilität führen. Angesichts des Umstands, dass die reichsten 5 Prozent der Bevölkerung zwei Drittel der direkten Bundessteuer zahlen, ist klar, wer in diesem Modell profitieren würde: Luxuslimousinen hätten freie Fahrt, während sich ein Grossteil der Bevölkerung die Mobilität nicht mehr im gleichen Umfang leisten könnte. Immerhin würde dieser Vorschlag wohl die Klimaziele unterstützen.

Das gegeneinander Ausspielen von öV und MIV ist in der Verkehrspolitik im Übrigen schon lange nicht mehr zielführend. In den Überlegungen, wie die Mobilität zukünftig organisiert werden soll, geht es vielmehr darum, wie die verschiedenen Verkehrsträger optimal genutzt und miteinander kombiniert werden können. Mobilität ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck. Gleichzeitig sollen neue Verkehrsträger und -angebote aufgenommen und integriert werden. Dies immer mit Blick auf die Klimaziele und die Standortattraktivität der ganzen Schweiz. Der multimodalen Mobilität gehört die Zukunft. Und diese soll noch mehr kombiniert werden mit weiterführenden Angeboten, wie zum Beispiel Car- und Bike-Sharing, Co-Working-Spaces oder attraktiven Freizeitaktivitäten. Darauf gilt es den Fokus zu setzen, wenn die raum- und verkehrspolitischen Rahmenbedingungen der Zukunft für die Schweiz festgelegt werden.

Die Kosten müssen bei diesen Abwägungen automatisch mitberücksichtigt werden. Und angesichts der einschneidenden Einbussen an Fahrgästen im öV durch die Corona-Pandemie, muss der öV seine Hausaufgaben machen. Der öV soll seinen Beitrag bei gleich hoch bleibender Angebotsqualität an Kostensenkungen leisten, mit einer kontinuierlich steigenden Nutzerfinanzierung und Effizienzgewinnen. Und er soll mit den erwähnten neuen Angeboten die Kundenbedürfnisse noch besser abholen und damit seinen Anteil am Gesamtverkehr erhöhen. Doch nur der öV kann realistischerweise eine nachhaltige Grundversorgung an Mobilitätsdienstleistungen sicherstellen, welche auch Personen mit eingeschränkter Mobilität, Schüler und Studenten oder älteren Personen erschwingliche und qualitativ hochstehende Fortbewegungsmittel ermöglicht.

Eins ist klar: zur Bewältigung der Klimakrise werden der Transportsektor als Ganzes und alle Verkehrsträger individuell besonders stark gefordert sein. Für uns ist ebenso klar, dass der öV dabei eine zentrale Rolle zur Lösung dieser Herausforderungen spielen muss. Für eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik brauchen wir aber keine Zombie-Ideen, sondern viele konstruktive Vorschläge und Innovationen, wie die multimodale Mobilität nachhaltig realisiert werden kann. Und wir brauchen die Unterstützung der Politik, mitsamt einer Mehrheit des Volkes. Diese haben bis anhin diesen konstruktiven Weg in der Verkehrspolitik mit grosser Zustimmung unterstützt.