25. 09. 2025

Prix LITRA 2025: Ob Personen- oder Güterverkehr – der öV-Nachwuchs bewegt die Schweizer Mobilität

Wie plant man das öV-Angebot der Zukunft? Welche Rolle spielen Infrastrukturprojekte oder die Stadtlogistik für die Mobilität von morgen? Der Prix LITRA 2025 macht deutlich, wie breit und aktuell die Themen des öV-Nachwuchses sind. Im Rahmen der feierlichen Preisverleihung der LITRA in Bern überreichte Bundesrat Guy Parmelin den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern den Pokal und würdigte ihr grosses Engagement für die Mobilität in der Schweiz. Ausgezeichnet wurden Silvano Fuchs, Mélina Errichelli, Julien Nippel und Ann Hesse.

Der Prix LITRA 2025: LITRA-Präsident Martin Candinas, Ann Hesse (Preisträgerin), Silvano Fuchs (Preisträger), Julien Nippel (Preisträger), Mélina Errichelli (Preisträgerin) und Bundesrat Guy Parmelin. © LITRA

Insgesamt 17 Arbeiten aus neun Hochschulen wurden in diesem Jahr für den renommierten Schweizer öV-Preis – den Prix LITRA – eingereicht; darunter sechs Bachelor- und elf Masterarbeiten. «Die beeindruckende Teilnehmerzahl unterstreicht das hohe Engagement junger Menschen für die Zukunft des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz», betont Martin Candinas.

Und was den LITRA-Präsidenten ganz besonders freut: «Jede dritte eingereichte Arbeit stammt von einer Studentin. In einer nach wie vor von Männern beherrschten Branche ist das ein ermutigendes Signal.»

Neben klassischen Themen wie Infrastruktur und Bahnausbau überzeugten die Einreichungen auch mit innovativen Fragestellungen: vom «Service Excellence»-Ansatz beim Strassen-öV über die historische Bedeutung von Seilbahnen in der Schweizer Gemeindeentwicklung bis hin zur urbanen Logistik.

Die Vielfalt spiegelte sich auch in der Arbeit der interdisziplinär zusammengesetzten Jury wider, die sich im Bundeshaus intensiv mit den Einreichungen auseinandersetzte. «Die Qualität der Arbeiten machte die Auswahl anspruchsvoll – zugleich zeigt sie, wie breit das Themenfeld Mobilität heute verstanden wird», so Martin Candinas.

Nach angeregter und ausführlicher Diskussion entschied sich die Prix-LITRA-Jury für eine Master-Arbeit von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), für eine gemeinsame Master-Arbeit der Universität Genf (UNIGE) in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO), sowie für eine Bachelor-Arbeit der Hochschule Luzern (HSLU).

LITRA-Präsident Martin Candinas freut sich an der Preisverleihung des Prix LITRA nicht nur über die grosse Anzahl Einreichungen und die breite Themenpalette, sondern auch ganz besonders über den grossen Frauenanteil. In einer von Männern-dominierten Branche wie dem öV sei das keine Selbstverständlichkeit. © LITRA

Können algorithmusbasierte Tools die Angebotsgestaltung im öV verbessern?

Die heutige Angebotsplanung im öffentlichen Verkehr reicht bis zum Zeithorizont 2035. Das wirkt einerseits weit voraus – wer weiss schon, wie sich unser Mobilitätsverhalten in den nächsten zehn Jahren entwickelt? Andererseits ist es ein erstaunlich kurzer Horizont, wenn man die Langfristigkeit von Infrastrukturprojekten bedenkt.

Für die nächsten, noch komplexeren Planungsschritte könnten leistungsfähige Rechenmodelle helfen, frühzeitig attraktive von weniger nachhaltigen Ausbauvarianten zu unterscheiden. Dieses Potenzial hat Silvano Fuchs im Rahmen seiner Master-Arbeit an der ETH Zürich untersucht.

Anhand eines Fallbeispiels ging er der Frage nach, ob und wie algorithmenbasierte Modelle die Entscheidungsfindung unterstützen können. «Eine leistungsfähige Bahninfrastruktur ist die Basis für eine erfolgreiche Mobilitätswende. Die langfristige Planung des Schweizer Bahnnetzes steht jedoch angesichts begrenzter Ressourcen, divergierender Interessen und hoher Unsicherheiten vor komplexen Herausforderungen», erklärt er den Leitgedanken seiner Arbeit.

Auf Basis des Bahnnetzes 2035 generierte der ETH-Student 100 Zukunftsszenarien, projizierte diese auf das Netz und bewertete sie mit monetären Kosten-Nutzen-Analysen. Damit konnte er die Wirkung verschiedener Ausbauvarianten unter Einbeziehung von Unsicherheiten systematisch vergleichen.

Ganz ersetzen können solche Tools die detaillierte Angebotsplanung nicht. Doch die Arbeit zeigt den praktischen Nutzen solcher Methoden auf: «Das Tool erlaubt, systematisch eine Vielzahl von Ausbauvarianten zu generieren – etwas, das Planenden manuell gar nicht möglich wäre. Es liefert ein vorselektiertes Paket bewerteter und priorisierter Optionen, das als fundierte Grundlage für vertiefte Planungsphasen dienen kann», erklärt Silvano Fuchs.

Fuchs, S. (2025), Algorithmusbasierte Entscheidungsunterstützung für die Planung des SBB-Bahnnetzes bis 2100, Masterarbeit, ETH Zürich, Zürich.

Wie können Ausbauvarianten algorithmisch generiert und bewertet werden, um robuste Entscheidungen bezüglich zukünftiger Bahn-Projekte zu ermöglichen? Mit dieser Forschungsfrage beschäftigte sich Silvano Fuchs im Rahmen seiner Masterarbeit an der ETH Zürich. © LITRA

Wie bringt man die städtische Logistik wieder näher zu den Menschen?

Mit der Auslagerung der Güterlogistik an die Peripherie sind in vielen Schweizer Städten Nutzungsbrachen im Siedlungsgebiet entstanden. Ausschlaggebend dafür waren neben ökonomischen und betrieblichen Gründen auch die unterschiedlichen Nutzungsansprüche von Gewerbe und Bevölkerung. Doch muss Logistik zwangsläufig ausserhalb der Stadt stattfinden?

Dieser Frage gingen Mélina Errichelli und Julien Nippel in ihrer gemeinsamen Master-Arbeit an der Universität Genf (UNIGE) und der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) nach. Zunächst analysierten sie die urbane Logistik im 21. Jahrhundert – mit Fokus auf rechtlichen Rahmenbedingungen, Funktionsweisen, aktuellen Herausforderungen und der Bedeutung des industriellen Erbes. Anschliessend untersuchten sie den ehemaligen Güterbahnhof Sébeillon in Lausanne und stellten die Frage, ob eine Wiedereingliederung der Logistik ins Stadtgebiet ein befruchtendes Miteinander von Wohn- und Gewerbenutzung schaffen könnte.

«Um die Zukunft des Güterverkehrs zu gestalten, müssen ökologische, soziale, wirtschaftliche und verkehrspolitische Aspekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Verdichtung der Städte, der Aufschwung des Online-Handels und ein zunehmend individualisierter Konsum verlangen ein verstärktes Interesse von Stadtplanern und öffentlichen Einrichtungen», betonen Errichelli und Nippel.

Wie kann die Logistik wieder in die Stadt integriert werden? Mit dieser Forschungsfrage beschäftigen sich Mélina Errichelli, gemeinsam mit ihrem Studienkollegen, Julien Nippel, im Rahmen ihrer Master-Arbeit an der Fachhochschule Westschweiz. © LITRA

Auf der Grundlage von Recherchen, Interviews mit Experten, Referenzprojekten in der Schweiz und im Ausland, Ortsbegehungen und Gesprächen mit der Bevölkerung entwickelten die beiden Master-Absolventen ein Quartierskonzept, das bestehende Strukturen aufnimmt, ergänzt und mit neuen Funktionen versieht. Ihre Analyse zeigt, dass sich eine Umschlaghalle für die City-Logistik in ein Quartier mit Wohn- und Gewerbenutzung integrieren lässt und mit einem für die Anwohner verträglichen Verkehrsaufkommen vereinbar ist.

«Wir haben uns einen Raum vorgestellt, in dem Logistik sichtbar, Teil des Alltags und zugleich auf die Bedürfnisse der Bewohner abgestimmt ist. Die Herausforderung bestand darin, ein Gleichgewicht zwischen der optimalen Nutzung der Logistikhalle und dem Verkehrsmanagement zu finden, ohne die Lebensqualität im Quartier zu beeinträchtigen», so Errichelli und Nippel.

Zugleich betonen die beiden Master-Absolventen, dass die hohe Komplexität des Güterverkehrs in Verbindung mit den unterschiedlichen Erwartungen der Bevölkerung eine zentrale Herausforderung der urbanen Logistik bleiben wird.

Errichelli, M. & Nippel, J. (2025), La question de la logistique urbaine et de sa réintégration au coeur de la ville, Master-Arbeit, Université de Genève UNIGE & HES-SO, Lausanne.

Wie kann die Logistik wieder in die Stadt integriert werden? Mit dieser Forschungsfrage beschäftigen sich Julien Nippel, gemeinsam mit seiner Studienkollegin, Mélina Errichelli, im Rahmen ihrer Master-Arbeit an der Fachhochschule Westschweiz. © LITRA

Hat die Eröffnung des Gotthardbasistunnels die Verkehrsverlagerung auf der Nord-Süd-Achse beeinflusst?

Der Gotthardbasistunnel gilt als zentrales Element der schweizerischen Verlagerungspolitik im alpenquerenden Verkehr. Doch welchen Einfluss hatte seine Eröffnung im Jahr 2016 tatsächlich auf den Strassenverkehr? Laut Monitoringbericht des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) führte der Tunnel zwar zu einer Abnahme der Nachfrage auf der Strasse; die Grundlage dieser Aussage sind jedoch Modellannahmen und Vergleichswerte von Zählstellen.

Im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit an der Hochschule Luzern (HSLU) suchte Ann Hesse nach einer robusteren Analyse. Mithilfe der «Synthetic Control Method» (SCM) verglich sie die realen Verkehrsdaten am Gotthard mit einer synthetisch erstellten Kontrollgruppe aus anderen alpenquerenden Strassentunnels. Ergänzt wurde dies durch Differenz-in-Differenzen-Analysen für den Schienenverkehr.

Anhand der Passagierzahlen im Gotthardbasistunnel und auf der Bergstrecke konnte Hesse den Anteil des verlagerten Verkehrs quantifizieren. «Die Ergebnisse zeigen, dass der Gotthardbasistunnel tatsächlich einen positiven Effekt auf den Schienenverkehr hatte, der Rückgang im Autoverkehr aber nicht eindeutig nachweisbar ist», erklärt sie. Ein Modal-Split-Vergleich ergab zudem, dass der Anteil des Schienenverkehrs am Gesamtverkehr im Jahr 2019 um 4,5 Prozentpunkte höher lag als im Zeitraum ohne Basistunnel.

Allerdings war der Haupttreiber dieser Entwicklung der neu entstandene Verkehr (rund 23 Prozent des Passagieraufkommens), während die effektive Verlagerung von der Strasse lediglich etwa 2,7 Prozent betrug. «Die Analyse zeigt, dass die Eröffnung des Gotthardbasistunnels zwar zu einer Verschiebung zugunsten der Bahn im Gotthardkorridor geführt hat, jedoch nicht zu einer substanziellen Reduktion des motorisierten Individualverkehrs. Dies weist darauf hin, dass neben der Reisezeitverkürzung auch andere Faktoren wie Komfort, Flexibilität und Gewohnheit die Verkehrsmittelwahl prägen», bilanziert Hesse.

Hesse, A. (2025), Bahninfrastrukturausbau und Strassenverkehr: Eine Synthetic Control Method-basierte Fallanalyse des Gotthardbasistunnels, Bachelor-Arbeit, Hochschule Luzern HSLU, Luzern.

Wie hat sich die Eröffnung des Gotthardbasistunnels auf den Strassenverkehr durch den Gotthard-Strassentunnel ausgewirkt? Führte die verbesserte Bahninfrastruktur zu einer Verkehrsverlagerung? Mit dieser Forschungsfrage beschäftigte sich Ann Hesse im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit an der Hochschule Luzern. © LITRA

Bundesrat Guy Parmelin spricht über die Lebensader öV und aktuelle politische Herausforderungen

Ausgezeichnet wurden die diesjährigen Prix-LITRA-Gewinnerinnen und -Gewinner von niemand Geringerem als Bundesrat Guy Parmelin. Im Anschluss richtete sich der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) zudem mit einer kurzen Ansprache zu aktuellen verkehrspolitischen Themen an die geladenen Gäste.

Dabei betonte der Bundesrat die zentrale Bedeutung von Mobilität und Transport für Gesellschaft und Wirtschaft.

Mobilität sei nicht nur eine immaterielle Grösse, sondern die Lebensader unserer Wirtschaft und unseres Landes. «Der öV ist die Lebensader vieler Täler. Er bringt Arbeitsplätze, stützt lokale Geschäfte und sorgt für nachhaltige Erreichbarkeit», so Bundesrat Guy Parmelin.

Als Vorsteher des WBF war es dem Bundesrat zudem ein Anliegen, die volkswirtschaftliche Bedeutung des öffentlichen Verkehrs zu betonen – nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland. Dabei verwies er unter anderem auf die erfolgreichen Freihandelsabkommen mit Mercosur, Thailand, Kosovo und Malaysia sowie auf die bevorstehende Umsetzung des neuen Abkommens mit Indien: «Für unsere Schweizer Bahnindustrie ist dies eine grossartige Chance», freut sich Bundesrat Guy Parmelin.

Gleichzeitig bringt der Erfolg des Schweizer öV-Systems auch Herausforderungen mit sich – nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt. «Jedes Jahr gehen mehr Menschen in Rente, als junge Leute auf den Arbeitsmarkt kommen.» Entsprechend werde der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren durch die demografische Entwicklung verschärft.

Aber für Bundesrat Guy Parmelin ist klar: «Hinter jedem pünktlichen Zug, hinter jedem Bus, der einen Pass erklimmt, stehen engagierte Frauen und Männer, die mit Leidenschaft bei der Sache sind und an das glauben, was sie tun. Lassen Sie uns gemeinsam und mit Zuversicht voranschreiten. Lassen Sie uns weiter inves­tieren, innovativ sein, ausbilden und uns der Welt öffnen. Lassen Sie uns die Schweiz zu einem mobilen, vernetzten und attrak­tiven Land machen!»

Nachdem Guy Parmelin in einer feierlichen Zeremonie die Preisträgerinnen und Preisträger des Prix LITRA ausgezeichnet hatte, richtete er sich an die anwesenden Gäste. Dabei hob der Bundesrat die Bedeutung des Schweizer öV für das Land hervor und blickte auf die aktuellen Herausforderungen der Finanzierung. © LITRA


Jedes Jahr prämiert die LITRA mit dem Prix LITRA Bachelor- und Master-Arbeiten von Studierenden von Schweizer Universitäten und Fachhochschulen, die ihre Abschlussarbeit dem öffentlichen Verkehr und dem Thema Mobilität widmen. Preisträgerinnen und Preisträger erhalten ein Preisgeld in Höhe von 3’000 Franken.