Prix LITRA 2020

Der öffentliche Verkehr soll gestärkt werden, insbesondere nach den Rückschlägen, die die Corona-Pandemie verursacht hat. Denn er trägt wesentlich dazu bei, dass die Schweiz ihre Klimaziele erreichen kann. Damit der öffentliche Verkehr seine Stellung halten und ausbauen kann, sind Politik und öV-Branche auf neue Impulse angewiesen. Mit dem Prix LITRA 2020 werden drei Arbeiten ausgezeichnet, die aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Disziplinen beitragen können, den öffentlichen Verkehr in der Schweiz mit neuen Ideen voranzubringen. Der Prix LITRA 2020 wurde anlässlich der LITRA-Mitgliederversammlung 2020 durch Bundesrat Guy Parmelin überreicht. Wir gratulieren herzlich!

Die Verleihung des Prix LITRA 2020, von links nach rechts: Alain Azzi (Preisträger), Florin Bircher (Preisträger), Raphael Graber und Severin Stiner (Preisträger), Bundesrat Guy Parmelin und LITRA- und Jurypräsident Martin Candinas

Elektrobusse: Mit welchem Ladekonzept gelingt die Umstellung?
Der öffentliche Verkehr ist heute deutlich umweltschonender als der motorisierte Individualverkehr. Neue Technologien helfen, die Umweltbelastung weiter zu reduzieren, insbesondere im Busverkehr. In den nächsten Jahren stehen viele Verkehrsbetriebe in der Schweiz vor der Herausforderung, ihre Busflotte emissionsfrei zu machen. Das wirft zwei Fragen auf: Können elektrische Antriebe den Betrieb der bestehenden Linien bewältigen und wieviel kostet der Umstieg? Alain Azzi, Absolvent des Maschinenbaus an der EPFL, entwickelt in seiner Masterarbeit ein Instrument, das Unternehmen bei der Entscheidfindung unterstützt. Zu diesem Zweck entwickelte er ein Modell, das den Energiebedarf für alle Buslinien in der Agglomeration Lausanne berechnet. Daraus und aus dem Busverkehrsplan ermittelt er für jede Linie die betrieblich geeignetste und wirtschaftlich günstigste Lösung. Drei technische Optionen stehen zur Verfügung: Overnight Charging (ONC, Laden im Depot über Nacht), Opportunity Charging (Laden an den Wendehalten) und In Motion Charging (Laden beim Fahren unter Fahrdraht). Die Untersuchung ergibt, fast das gesamte Busnetz in der Agglomeration Lausanne ohne Fahrplananpassung auf Elektrobetrieb umgestellt werden kann: 24 der 25 untersuchten Linien eignen sich für den elektrischen Betrieb. Dieses Netz könnte bis 2030 mit einem Investitionsvolumen von 15 Millionen Franken pro Jahr elektrifiziert werden. Als bevorzugte Technologie ergibt sich durchwegs das Laden an den Wendehalten. Das entwickelte Tool lässt sich – unter Anpassung einiger Parameter – auf andere Netze übertragen. Damit können andere Transportunternehmen den Energiebedarf streckengenau berechnen, die geeignetste Ladetechnologie bestimmen und abschätzen, ob sich die Elektrifizierung lohnt.

Zur Arbeit von Alain Azzi haben wir 2021 eine Prix LITRA-Publikation veröffentlicht.

In seiner Videobotschaft erklärt Preisträger Alain Azzi, was er in seiner Arbeit zu den transports lausannois herausgefunden hat.

Einnahmensicherung: Wie lässt sich das Schwarzfahren reduzieren?
Auf rund drei Prozent aller öV-Reisen wird schwarzgefahren. Damit entgeht dem öffentlichen Verkehr jährlich ein zweistelliger Millionenbetrag. Florin Bircher, Absolvent der School of Management and Law an der ZHAW, untersucht in seiner Masterarbeit, wie man in der Schweiz dem Phänomen des Schwarzfahrens entgegentreten kann und inwiefern Prävention und Sanktionen dabei helfen können, das Schwarzfahren einzudämmen. Er arbeitet zunächst den aktuellen Forschungsstand zum Thema auf und analysiert das zentrale Schwarzfahrerregister. Dann führt er mit Experten der Einnahmesicherung qualitative Interviews und entwickelt daraus einen Katalog aus Präventions- und Sanktionsmassnahmen, die er im Rahmen eines Online-Experiments testet. Die Arbeit zeigt auf, dass die Einnahmensicherung regional unterschiedlich gehandhabt wird, und bestätigt die präventive Wirkung von Stichkontrollen, insbesondere wenn diese angekündigt werden. Auch geschlechterspezifische Effekte wurden festgestellt: Sowohl die Erhöhung der Strafgebühr im Wiederholungsfall wie auch der Appell an die Moral wirken bei Frauen stärker als bei Männern. Insbesondere die praktische Umsetzung der moralischen Einflussnahme müsste weiter untersucht werden, ebenso wie die die Tatsache, dass gewisse Massnahmen bei Männern keine Wirkung entfalten. Das Fazit der Arbeit: Verhaltensökonomische Aspekte sollten stärker berücksichtigt werden bei der Prävention und Sanktionierung von Schwarzfahren. Diese könnte ohne grossen finanziellen Mehraufwand geschehen, dafür mit spürbaren Effekten für die Einnahmensicherung. Allgemein sollte die Einnahmensicherung höher gewichtet uns als Branchenthema verankert werden.

Fahrplanstabilität: Wo liegen die neuralgischen Stellen?
Ein stabiler Fahrplan ist eine wesentliche Voraussetzung für hohe Pünktlichkeit und Qualität im öffentlichen Verkehr. Die Pünktlichkeit bildet denn auch einen der Leistungsindikatoren bei der Beurteilung des Angebots gegenüber den Bestellern wie auch in unternehmenseigenen Anreizsystemen. Raphael Graber und Severin Stiner, Absolventen an der ZHAW School of Engineering, wollten es genauer wissen: Mit Hilfe eines Modells haben sie die Stabilität des Fahrplans der Rhätischen Bahn auf dem Korridor Chur – St. Moritz analysiert. Darin werden Einflussfaktoren wie Zugfolgezeiten, Ankunft und Abfahrt, Umsteigebeziehungen, Kreuzungen, Wendezeiten und Zugsläufe berücksichtigt. Sie führen Berechnungen für den aktuellen Fahrplan und das zukünftige Angebotskonzept Retica 30+ durch. Ihre Analyse erlaubt es, die Stabilität des Fahrplans als Ganzes zu beurteilen. Sie gibt Hinweise auf neuralgische Stellen im Netz, die anfällig für Verspätungen sind oder die eine Kettenreaktion von Verspätungen auslösen können. Im aktuellen Fahrplan liegt ein solcher neuralgischer Punkt beim Bahnhof Filisur, der umgeben von einspurigen Strecken ist. Für Retica 30+ verschiebt sich der kritische Punkt zum Bahnhof Chur – hier führt der integrale Taktfahrplan dann zu mehr Abhängigkeiten. Die Fahrplanstabilitätsanalyse kann mit entsprechenden Anpassungen auf andere Strecken und Netze übertragen werden. Ihr Nutzen liegt darin, dass Bahnbetreiber vorausschauend die Wirkung von Fahrplanänderungen abschätzen können. Damit können sie Engpässe vorab identifizieren und betriebliche oder bauliche Massnahmen treffen, um diese zu beseitigen